Deutsches Schiffahrtsmuseum

Presse-Info-Service

Info Nr. 05/99 vom 07.04.1999

In zwanzig Stunden 1.400 Tiden mit beachtlicher Genauigkeit vorausberechnet

Im Deutschen Schiffahrtsmuseum wird zur Zeit die letzte in Deutschland gebaute mechanische Gezeitenrechenmaschine zusammengesetzt - In Rostock-Warnemünde vor dem Verschrotten gerettet - Acht-Tonnen-Koloß soll möglichst wieder funktionsfähig werden

Als das Deutsche Schiffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven kurz nach der Wende von seinem Kooperationspartner, dem ebenfalls in Bremerhaven ansässigen Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), erfuhr, daß die letzte in Deutschland konstruierte und gebaute mechanische Gezeitenrechenmaschine verschrottet werden sollte, wenn sich kein Abnehmer finden würde, war schnelles Handeln gefragt. Museumsdirektor Professor Dr. Detlev Ellmers und Werkstattleiter Jörg Geier fuhren kurzentschlossen nach Rostock-Warnemünde, besichtigten die immerhin acht Tonnen schwere Erblast, die so plötzlich auf das AWI zugekommen war, und entschieden sich nach sorgfältiger Überlegung für eine Übernahme ins Deutsche Schiffahrtsmueum.

Kein anderes Museum sah sich in der Lage, die Maschine bei sich aufzustellen. Das hatte seinen guten Grund. Denn eigentlich ließ sich der Gigant gar nicht bewegen. Und selbst wenn er sich hätte bewegen lassen, paßte er durch keine Tür. Es blieb nichts anderes übrig als die Zerlegung in handhabbare Teile. So nahm denn Geier seine gesamte Mannschaft des Technischen Dienstes mit nach Rostock. In zwei Tagen und unter mißtrauischen Blicken bauten sie die mit ihrem unteren Abschnitt im Raum eingemauerte Maschine auseinander und transportierten die Einzelteile nach Bremerhaven, wo sie einzeln eingelagert werden mußten.

Erst als die neu errichtete Ausstellungshalle dem Museum am 30. November 1998 übergeben worden war, konnte in der neu konzipierten Abteilung "Gezeiten" genau an der vorgesehenen Stelle der schwierige Wiederaufbau des Kolosses beginnen. Seitdem sind Werkstattleiter Jörg Geier und seine Mitarbeiter unentwegt damit beschäftigt, die Maschine Stück für Stück wieder zusammensetzen und sogar betriebsfähig zu machen. Zunächst arbeiteten Dieter Duden und Siegfried Müller das äußere Erscheinungsbild auf. Danach haben sich Hinrich Nutzhorn und Andree Schnelle in die Rekonstruktion förmlich verbissen und dabei gründliche Kenntnisse über die Funktionsweise eines Rechners gewonnen, dessen Daten einstmals für die Volksmarine wie auch für die Handelsschiffahrt der DDR von großer Bedeutung waren. Was die Aufgabe der beiden Rekonstrukteure nicht gerade leichter macht: Bei dem Puzzle können sie außer auf einige zeitgenössische Literatur lediglich auf kleine Pläne und Detailrisse zurückgreifen. Ein Gesamtplan existiert offenbar nicht mehr.

Seitdem die Elektronik auch auf diesem Sektor die Mechanik verdrängt hat und Computer bei minimalem Raumbedarf die gewünschten Daten mit maximaler Genauigkeit in kürzester Zeit liefern, haben die Gezeitenrechenmaschinen in der Tat nur noch musealen Wert, aber der ist gar nicht hoch genug anzusetzen. Das Deutsche Schiffahrtsmuseum ist in der guten Lage, in seiner zukünftigen Gezeiten-Abteilung gleich vier dieser einstmals für die Sicherheit der Schiffahrt unenbehrlichen Geräte den Besuchern zeigen zu können. Außer zwei kleinen mechanischen Rechnern für den Bordgebrauch besitzt es seit längerem eine 1915 in Potsdam-Babelsberg konstruierte Gezeitenrechenmaschine, die für die deutsche Marineleitung allerhöchste strategische Bedeutung besaß: Weil Deutschland im Ersten Weltkrieg von der britischen Hydrographie abgekoppelt war, sollte nun dieser Rechner die für den Einsatz der U-Bootflotte unentbehrlichen Tidenvoraussagen hervorbringen.

Vierzig Jahre danach lieferten der Konstrukteur W. Below, dazu weitere Ingenieure und Mechaniker, für die DDR ein wahres Meisterstück ab: Die Maschine, an der gleich mehrere volkseigene Betriebe wiederum in Berlin-Teltow und Potsdam-Babelsberg drei Jahre lang gearbeitet hatten, war imstande, in zwanzig Stunden die rund 1.400 Tiden eines Hafens für ein ganzes Jahr vorauszuberechnen. Die wirkliche Tidenbewegung wurde dafür nach einem vom französischen Physiker und Mathematiker Joseph Fourier ersonnenen Verfahren in zahlreiche sinusförmige sogenannte Partialtiden zerlegt, die dann mechanisch wiederum zur berechneten Gezeitenkurve addiert wurden. Das Verfahren behielt zwar wegen des erheblichen Flachwassereinflusses auf die Gezeiten in unseren Gebieten gewisse Ungenauigkeiten, woran auch die auf mehr als ein Zehnmillionstel exakten Übersetzungsverhältnisse der einzelnen Getriebe nichts zu ändern vermochten, aber insgesamt waren die Ergebnisse doch beeindruckend.

Die geschilderten Rechenvorgänge spielten sich - wahlweise durch Elektro- oder Handantrieb - in einem wahren Koloß ab: Die Maschine ist immerhin 5,40 Meter lang, 1,10 Meter breit und 2,20 Meter hoch. In ihr bewegen sich 34 Tidengetriebe mit jeweils 55 Kilogramm Gewicht. Dr. Albrecht Sauer, der für den Forschungs- und Ausstellungsbereich "Gezeiten" zuständig ist, möchte erreichen, daß die Besucher nach der Einweihung des Erweiterungsgebäudes diese Tidengetriebe zumindest zeitweise in Bewegung erleben können. Allerdings kann er ihnen keine Ausdrucke vorlegen, denn das separate Druckwerk war längst auf dem Schrottplatz gelandet, als die DSM-Mitarbeiter vom Technischen Dienst in Rostock-Warnemünde anrückten.

Alle in Deutschland gebauten großen mechanischen Gezeitenrechenmaschinen sind erhalten geblieben. Zwei hat das Deutsche Schiffahrtsmuseum in seinem Bestand, die dritte und größte, die von 1935 bis 1939 gebaut wurde, steht im Deutschen Museum in München. Letztmalig, bevor die Elektronik auch in der Hydrographie die Mechanik ein für allemal verdrängte, wurde ein solcher Rechner 1957 in Japan in Betrieb genommen. Ob er erhalten blieb, vermag Dr. Sauer nicht zu sagen.

Hinweis: Die Veröffentlichung des Info-Service ist kostenfrei. Wir bitten jedoch bei Druckmedien um Übersendung eines Belegexemplars.


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