Die Vorausberechnung der Gezeiten
Erklärungsmodelle der Gezeitenerscheinungen, insbesondere ihr Zusammenhang mit dem Mond, gehen bis in die Antike zurück. Im Mittelalter gelangte besonders der um 700 am River Tyne an der englischen Ostküste lebende Beda Venerabilis dank sorgfältiger Beobachtung der Tiden zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Bereits aus dem Mittelalter sind auch die ersten nautischen Methoden überliefert, die Gezeiten überschlägig vorauszuberechnen. Man stellte schlicht am jeweiligen Ort fest, in welcher Richtung der Mond stand, wenn Hoch- oder Niedrigwasser war, und hatte damit die sogenannte Hafenzeit. War der Mond selbst nicht sichtbar, dann übertrug man diese seine Peilung auf den Stand der Sonne: Da bei Neu- und Vollmond Sonne und Mond gleichzeitig kulminieren, entsprach an diesen Tagen die Mondpeilung auch der Sonnenpeilung. Für jeden darauffolgenden Tag rechnete man nun einen Strich der 32teiligen Kompaßrose zur Peilung hinzu, um der rund 50minütigen täglichen Verspätung des Mondes gerecht zu werden und verfügte so über eine Möglichkeit, mit einem einfachen Handkompaß oder einer Sonnenuhr, wie sie in der Ausstellung gezeigt wird, die Hoch- oder Niedrigwasserzeit zu bestimmen.
Dieses Verfahren wurde nachweislich in der Küsten- und Kleinschiffahrt über mehr als ein halbes Jahrtausend angewandt. Allerdings setzte bereits im 17. Jahrhundert erhebliche Kritik ein, da man feststellte, daß die so gewonnenen Hafenzeiten oft um bis zu 1½ Stunden fehl gingen. Das Problem war die sogenannte halbmonatliche Ungleichheit aus dem Einfluß der Sonnenkräfte auf die Gezeiten, die sich teils verfrühend, teils verspätend auswirkt. Doch um dies zu erkennen, mußte erst Sir Isaak Newton das Gravitationsgesetz formuliert haben, was 1687 geschah. Newton legte damit den Grundstein für die im heutigen Sinne wissenschaftliche Erforschung der Gezeiten, da man nun auf die eingangs umrissenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten aufbauen konnte. Alle ab 1740 entstandenen, spezielleren Arbeiten zur Gezeitenforschung von Gelehrten wie Daniel Bernoulli, Leonhard Euler, Colin McLaurin bzw. später von Pierre Simon Laplace, John William Lubbock, William Thomson (Lord Kelvin) und anderen wären ohne Newtons Vorarbeit nicht möglich gewesen.
Zusätzlich zu den Erkenntnisfortschritten auf wissenschaftlicher Seite entstand Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Verbreitung der damals neuartigen Dampfschiffe ein gesteigertes Bedürfnis nach präzisen Gezeitenvorausberechnungen. In der Zeit der Segelschiffahrt waren die Abfahrt- und mehr noch - wegen der unberechenbaren Schiffsgeschwindigkeit - die Ankunftszeit eines Schiffes von den Launen des Wetters abhängig, und ein mehrstündiges Ankern vor Flußmündungen und Häfen, um die richtige Tide abzuwarten, fiel kaum ins Gewicht. Die Dampfschiffe hingegen hatten im Normalfall durchaus berechenbare Geschwindigkeiten und meist kürzere Reisezeiten. Für sie war ein mehrstündiges Ankern vor dem Zielhafen inakzeptabel. Sie brauchten präzise Gezeitentafeln und Stromangaben, um im Interesse eines ökonomischen Kohleverbrauchs die Schiffsgeschwindigkeit schon frühzeitig auf die Tideverhältnisse am Zielort abstimmen zu können. Auch suchte man in der Passagierschiffahrt den Anschluß an die Fahrpläne der Eisenbahn, um einen reibungslosen Reiseverkehr zu ermöglichen.
Bereits 1833 waren in Großbritannien – 45 Jahre vor Deutschland – Gezeitentafeln erschienen, die auf der Grundlage des von Lubbock entwickelten, sog. Nonharmonischen Verfahrens errechnet worden waren und zunächst nur die Hochwasserzeiten von vier Häfen umfaßten. Ihre sehr aufwendige Berechnung basierte auf einer 19jährigen Analyse der Gezeiten der Themse bei London-Bridge. Sie hatte bestimmte, mathematisch formulierbare Abhängigkeiten der Gezeit erwiesen: von der Durchgangszeit des Mondes durch den Meridian von Greenwich, von der Deklination, das heißt der Abweichung der Mondbahn vom Himmelsäquator, und von der Parallaxe, die sich aus der relativ erdnahen Stellung unseres Trabanten von der Erde ergibt.
1867 verdrängte jedoch ein neues, das sogenannte Harmonische Verfahren die monatelange Rechenarbeit von Spezialisten durch Simplifizierung, und vor allem durch Mechanisierung des Rechenvorgangs. William Thomson, bekannt als Lord Kelvin, griff ein Verfahren auf, daß auf den französischen Mathematiker Joseph Fourier zurückgeht und darin besteht, die tatsächliche Gezeitenkurve eines Ortes in eine Anzahl von gleichmäßigen Sinusschwingungen zu zerlegen, die, anders als die unregelmäßige tatsächliche Schwingung, aufgrund ihrer Gleichmäßigkeit relativ einfach vorausberechnet werden können. Ein Verfahren, das allgemein auch als Fourier-Analyse bezeichnet wird. Sinusschwingungen können zudem relativ leicht mechanisch erzeugt werden, so daß es durch Anwendung dieses Verfahrens möglich wurde, mechanische Gezeitenrechenmaschinen zu konstruieren, die die aufwendige Rechenarbeit beträchtlich vereinfachten und beschleunigten. Die Aufgabe der Maschinen bestand dabei darin, die einmal analysierten regelmäßigen Teilschwingungen einer tatsächlichen Tide, die sogenannten Partialtiden, nachzubilden und in ihrer Gesamtheit wieder zusammenzusetzen (zu addieren), so daß sich im Ideal die ursprüngliche Kurve ergibt. In der Mathematik heißt ein solches Gerät Fourier-Integrator.
Die erste Kelvin’sche Konstruktion mit 10 Getrieben ( = Partialtiden) wurde 1873 fertiggestellt. Sie errechnete die rund 1400 Jahrestiden eines Hafens in 4 Stunden, eine Arbeit, für die ein geübter Rechner zuvor Monate gebraucht hatte. Wie revolutionär diese Technik damals war, zeigt sich darin, daß die Maschine 1878 auf der
Pariser Weltausstellung gezeigt wurde. Ihr Nachfolgemodell von 1879 besaß bereits 20 Getriebe, um die Genauigkeit der Rechnung zu erhöhen, und arbeitete immerhin bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Vorteile der Gezeitenrechenmaschinen waren derart überzeugend, daß auch andere Länder nachzogen und mehr oder weniger ähnliche Konstruktion in Dienst stellten.
Die erste deutsche Maschine, die auch in der Ausstellung zu sehen ist, wurde 1915-1916 im geheimen Auftrag des Reichsmarineamtes nach Angaben des Mathematikers Friedrich Kühnen vom Geodätischen Institut in Potsdam und des Konstrukteurs Reipert bei Toepfer & Sohn in Potsdam erbaut. Der Hintergrund, die durch den ersten Weltkrieg nicht mehr zur Verfügung stehenden Daten der englischen Hydrographie, und das Bestreben, hinsichtlich der besonders für den U-Boot-Krieg wichtigen Vorausberechnung weltweiter Gezeiten autark zu sein, ließ diese in mancherlei Hinsicht eigenständige Wege gehende Maschine in nur zwei Jahren Bauzeit entstehen. Die seitlichen kreisförmigen Vorrichtungen sind Schalter, die das rechts in einer eigenen Vitrine stehende Druckwerk ansteuerten. Dieser Zusatz wurde erst im Jahr 1931 ergänzt, um nicht nur eine graphische, sondern auch eine digitale Ausgabe zu erhalten.
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