Gezeiten

Die geographischen Gezeiten

Die Beschreibung der erdumlaufenden Gezeitenwellen ging vereinfachend davon aus, daß unser Planet vollständig von einem tiefen Ozean umspült wäre, auf dem das Wasser frei fließen und sich entsprechende Erscheinungen ausbilden könnten. Das ist, wie jeder weiß, nicht der Fall. Landmassen formen die Becken der Ozeane und grenzen sie ein. Dazu kommt die von der Erdumdrehung herrührende Corioliskraft, die auf der Nordhalbkugel zu einer Rechtsablenkung, auf der Südhalbkugel zu einer Linksablenkung aller großräumigen Bewegungen auf der Erdoberfläche, also auch von Wellen und Meeresströmungen führt. Die Gezeitenwellen sind folglich nicht frei, sondern durch die jeweiligen geographischen und geophysikalischen Gegebenheiten zu einem angepaßten Verhalten gezwungen. Hierdurch erst entstehen aus den eigentlich vom Betrag her geringen, allerdings seit Jahrmillionen wirkenden astronomischen Kräften die mitunter gigantischen Naturphänomene, die wir an den Küsten erleben.

Die Gezeiten sind somit nicht als weltweit von Ost nach West umlaufende Wellen vorzustellen, sondern mehr als Resonanzschwingungen der Wassermassen der Ozeane. Dabei bilden sich Schwingungssysteme, bei denen die Gezeitenwellen um einen gezeitenlosen Punkt kreisen, von den Fachleuten Amphidromische Systeme genannt (griechisch: amphis = ringsum, dromos  = Lauf). In der Ausstellung zeigt das große Funktionsmodell der nordwesteuropäischen Gewässer (Ärmelkanal, Irische See und Nordsee), daß es selbst in der Nordsee, die im wesentlichen von den Gezeiten des Nordatlantik beeinflußt ist, drei solcher Systeme gibt. Das für unsere Reviere wichtigste liegt mit seinem Zentrum weit westlich vor Jütland mitten in der See. Drückt man auf den Bedienknopf des Modells, kann man recht anschaulich erkennen, wie die Gezeitenwelle aus dem Nordatlantik an der Ostküste Großbritanniens herabwandert, um vor den Niederlanden nach Osten zu schwenken und in die Deutsche Bucht hineinzulaufen. Das ist insofern bemerkenswert, als damit an der deutschen Nordseeküste vor Ems, Weser und Elbe die Gezeitenwelle nicht mit dem Mond von Ost nach West, sondern ihm geradewegs entgegen läuft.

Damit ist offenkundig, daß die Gezeitenwerte der Flußmündungen und Häfen in diesem Gebiet nicht nur aus den astronomischen Gegebenheiten berechnet und vorhergesagt werden können, sondern die vielfältigen geographischen und geophysikalischen Verhältnisse vor Ort mit berücksichtigt werden müssen. Dies kann nur durch möglichst langfristige Beobachtung geschehen, damit wirklich alle periodischen astronomischen Konstellationen in ihren Wirkungen auf die lokale Gezeitenform erfaßt werden. Der sogenannte Metonische Zyklus des Mondes zum Beispiel, das heißt die Zeit, die die bereits erwähnte Knotenlinie der Mondbahnebene mit der Ekliptik für einen Umlauf braucht, umfaßt 18,6 Jahre. Erst nach dieser Zeit fallen die Mondphasen wieder auf dasselbe Tagesdatum, erreichen Mond- und Sonnenkräfte also wieder annähernd gleiche Verhältnisse. Im Idealfall sollten folglich die Beobachtungen der örtlichen Gezeiten über diesen Zeitraum erfolgt sein, bevor die Vorhersagen mit hinreichender Verläßlichkeit erfolgen können.

Funktionsmodell der Amphidromischen Systeme der Nordsee.

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